Link 30 – Thema: Richterhaftung

Teil 1 (von 4)

EuGH erweitert Richter-Haftung für fehlerhafte Urteile

Quelle: http://www.handelsblatt.com/archiv/­offensichtlich-falscher-umgang-mit-europarecht-kann-zivilrechtliche-haftung-ausloesen-eugh-erweitert-richter-haftung-fuer-fehlerhafte-urteile/2278338.html

10.10.2003

Den deutschen Staat und seine Richter kann der nachlässige Umgang mit dem Recht bald teuer zu stehen kommen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem neuen Urteil erstmals eine erweiterte Haftung für Fehlurteile der Justiz eingeführt. Gehaftet wird für die Missachtung europäischen Rechts.

Die Frage, ob sich Gerichte genauso wie Gesetzgeber und Verwaltung für Fehler im Umgang mit Europarecht verantworten müssen, kam in einem Rechtsstreit zwischen einem österreichischen Professor und dessen Hochschule auf. Der Lehrstuhlinhaber verlangte einen Treuezuschlag, der jedem Akademiker zusteht, der eine längere Zeit an einer österreichischen Hochschule beschäftigt ist. Den Prozess hatte er verloren, weil das Gericht der Ansicht war, ausländische Lehrerfahrungen müssten bei der Berechnung des Dienstalters nicht hinzugezählt werden. Damit vertrat es eine andere Haltung, als sie der EuGH einnimmt. Dieser hatte geurteilt, eine solche Bevorzugung schottete den österreichischen Hochschulmarkt ungebührlich gegen ausländische Konkurrenten ab.

Problematisch dabei: Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts war kein Rechtsmittel mehr möglich. Das Urteil war zwischenzeitlich sogar rechtskräftig geworden. Trotzdem nahm der Kläger den Fehler des Gerichts zum Anlass, um die fehlenden Treuprämien nun nicht länger bei seiner Hochschule, sondern direkt beim österreichischen Staat einzuklagen. Die Klage war ungewöhnlich, weil Schäden, die aus dem Fehlverhalten von Richtern entstehen, üblicherweise nicht gerichtlich geltend gemacht werden können. Anders als andere Teile der Staatsverwaltung haften Richter nämlich in Deutschland und auch in nahezu allen EU-Mitgliedstaaten nur sehr eingeschränkt für Fehlurteile. In Deutschland kann Schadenersatz praktisch kaum verlangt werden. Möglich ist das nur dann, wenn der Richter sich zugleich in seinem Amt strafbar macht. Zweitens haften Richter, die einen Rechtsstreit bewusst verzögern oder sich weigern, ein Verfahren überhaupt zu betreiben.

Änderungen an dieser Rechtslage deuteten sich an, seit der EuGH entschieden hatte, dass sogar der Bundesgesetzgeber für den falschen Vollzug von übergeordnetem EU-Recht haftet und sich dem Europarecht unterordnen müsse. Mehrere europäische Staaten wähnten dennoch ausreichende Gründe auf ihrer Seite, um für die Beibehaltung der eingeschränkten Richterhaftung zu streiten. Das Damoklesschwert der Amtspflichtverletzung schränke Richter bei der unabhängigen Ausübung ihrer Tätigkeit ein, ließ etwa die britische Regierung in Luxemburg vortragen.

Die jetzige Entscheidung setzt sich über diese Bedenken hinweg. Der EuGH schrieb den Staaten ins Stammbuch, dass sie sich nicht auf alte Traditionen berufen könnten, wenn es darum gehe, geltendes EU-Recht zu beachten. Sie wiesen zudem darauf hin, dass die Staatshaftungsklage die Rechtskraft eines Urteils gar nicht beeinträchtige, sondern nur etwaige Schäden ausgleiche. Schließlich sahen sie auch die die richterliche Unabhängigkeit nicht gefährdet. Der Staat könne eigenmächtig festlegen, dass er etwaigen Schadenersatz bei Richtern anders als bei Beamten nicht zurückfordere. Insgesamt bewerten die Luxemburger Richter etwaige Verstöße ihrer Amtskollegen jedoch milder als Vergehen anderer staatlicher Organe. Es bedürfe immerhin eines offenkundigen Verstoßes gegen EU-Recht, um die Haftung auszulösen. Sie sei zudem auf letztinstanzliche Urteile beschränkt.

Dem Kläger half das Urteil dennoch nicht viel. Der EuGH urteilte, dass seine eigene Rechtsprechung in Bezug auf die verhandelte Frage bislang noch zu unbestimmt war. Weil der EuGH seine Rechtsprechung erst jetzt präzisierte, hatten die österreichischen Richter europäisches Recht also nicht offensichtlich falsch angewendet.
Aktenzeichen: EuGH: C-224/01

 

Teil 2 (von 4)

Strafprozess, Amtsgericht. Wie in etwa 97% aller amtsgerichtlichen Verfahren wird der Angeklagte verurteilt. Fünf Jahre später stellt sich heraus, dass der dem Angeklagten gemachte Vorwurf unzutreffend war, vor allem aber das ihm vorgeworfene Verhalten gar keinen Straftatbestand erfüllt.

Das hätte jeder Referendar nach Aktenlage erkennen können, ja müssen, um noch eine akzeptable Note zu bekommen. Der Richter hat es nicht erkannt, obwohl ihm die Verteidigung mehrfach schriftlich wie mündlich darauf hingewiesen hat. Muss der Richter auch nicht, denn er ist ja schon Richter. Und zu befürchten hat der Richter rein gar nichts. Eine Dienstaufsicht, die diesen Namen verdiente, ist für Richter nicht existent, und für seine Fehler zivilrechtlich geradestehen muss in Deutschland kein Richter. Ein Richter haftet nicht einmal dann, wenn er bedingt vorsätzlich eine Prozesspartei benachteiligt. Das steht zwar nicht im Gesetz, aber der BGH sagt es so. Und die, das sagen sind – na klar – Richter.

Das ist ein Missstand, vielleicht DER Missstand an deutschen Gerichten. Denn dort, wo Fehlverhalten keine Konsequenzen hat, herrscht Verantwortungslosigkeit. Kann mir ja keiner was. Dieses Lied singt jeder Strafrichter gerne, wenn er das Strafmaß für die Angeklagten begründet, aber für sich selbst will er davon nichts wissen.

Deswegen ist dem Kollegen Siebers Recht zu geben, wenn er hier vorschlägt, die Haftung für Richter einzuführen. Denn schließlich haftet der Rechtsanwalt ja auch für die Schäden, die er anrichtet. Darum ist jeder Rechtsanwalt gesetzlich verpflichtet, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen. Das wird auch nicht etwa dadurch gehindert, dass der Rechtsanwalt „Organ der Rechtspflege“ ist, genauso wie Richter und Staatsanwälte. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum Richter nicht auch eine solche Versicherung abschließen sollten und damit den Rechtsanwälten zumindest in dieser Hinsicht gleich gestellt wären.

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10.10.2003 – Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem neuen Urteil erstmals eine erweiterte Haftung für Fehlurteile der Justiz eingeführt. Gehaftet …

 

Teil 3 (von 4)

Hannes Hausbichler, Bundesvorsitzender der Männerpartei, lässt im Wahlkampf mit einer gewagten Forderung aufhorchen: Viele Richter und Gutachter mögen …

Ein Richter, der schuldhaft gegen seine Berufs- und Standespflichten verstößt, hat sich sowohl disziplinär als auch gegebenenfalls strafgerichtlich zu verantworten. Zivilrechtlich kann ein Richter nur dem Staat gegenüber haftbar werden. Parteien, die durch ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten eines Richters einen Schaden erleiden, können diesen nach den Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes nur dem Staat gegenüber geltend machen.

 

Teil 4 (von 4)

Das sei „eine konservative Schätzung“, schreiben die Forscher um Samuel Gross von der Universität Michigan. Sie stützten ihre Berechnung auf die Zahlen bekannt gewordener Fehlurteile und errechneten, wie viele Fälle nie an die Öffentlichkeit kamen, weil die betroffenen Menschen entweder exekutiert oder ihre Schuldsprüche aufgrund der Zweifel in lebenslange Haft umgewandelt wurden.

Schuld oder Unschuld?
„Rate of false conviction of criminal defendants who are sentenced to death“ von Samuel Gross und Kollegen ist am 28. April 2014 in den „Proceedings of the National Academy of Sciences“ erschienen. Ronald Williamson wurde 1988 zum Tode verurteilt. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass er gemeinsam mit einem Freund die Kellnerin Debbie Carter ermordet hatte, obwohl beide die Tat bestritten. 1997 wurde der Fall vorerst aus formalen Gründen neu aufgerollt, 1999 belegte schließlich eine DNA-Analyse, dass Williamson elf Jahre lang unschuldig in der Todeszelle gesessen war.

Der Fall Williamson ist einer jener Fehlurteile, von denen auch eine breitere Öffentlichkeit erfahren hat. Aber wie viele Fälle gibt es, von denen nie jemand erfährt? Eigentlich sei es unmöglich, diese Frage zu beantworten, räumen Gross und Kollegen ein, denn: „Wenn wir wissen, dass jemand unschuldig ist, wird er gleich gar nicht verurteilt.“

Das mache es auch so schwierig, die Rate an Fehlurteilen zu schätzen, nicht nur in Bezug auf die Todesstrafe, sondern generell für das Justizsystem. Konservative Richter wie etwa Antonin Scalia, Mitglied des Obersten Gerichtshofs der USA, betonen immer wieder, dass die Fehlerrate bei nur 0,027 Prozent liege, die Urteile also zu 99,973 Prozent richtig seien. Dabei hätten sie aber nur die Begnadigungen eines Jahres ins Verhältnis zu den Verurteilungen gesetzt – „eine völlig unzureichende Methode“, sind sich die Forscher sicher.

Dass die Forscher als Untersuchungsgegenstand die Todesurteile gewählt haben, begründen sie damit, dass diese besonders genau – und auch im Nachhinein immer wieder – geprüft werden. Obwohl sie weniger als ein Tausendstel aller von US-Gerichten verhängten Urteile ausmachen, beträgt ihr Anteil an den wieder aufgerollten Fällen bzw. den Begnadigungen zwölf Prozent. Außerdem gibt es strenge Regeln für die Prozesse. Beispielsweise finden alle Prozesse, bei denen die Todesstrafe droht, vor Geschworenen statt, alle Angeklagten erhalten einen Anwalt.

1,6 Prozent begnadigt, 4,1 Prozent unschuldig
Insgesamt wurden im Untersuchungszeitraum zwischen 1973 und 2004 7.482 Menschen zum Tode verurteilt. Davon wurden 12,6 Prozent hingerichtet, 1,6 Prozent wurden nachträglich freigesprochen, vier Prozent starben in der Todeszelle durch Suizid oder aus natürlichen Gründen, 46,1 blieben in der Todeszelle, und bei 35,8 Prozent der Fälle wurde die Todesstrafe aufgehoben, sie blieben aber inhaftiert.

Diese Zahlen inklusive einiger zu den Fällen recherchierter Details gossen die Forscher in ein statistisches Modell, das in der Medizin zur Berechnung der Überlebensrate von Patienten erstellt wurde. Ihr Ergebnis: 4,1 Prozent aller Menschen, die in den genannten Jahren in Todeszellen saßen, waren unschuldig.
Dass diese Zahl doch deutlich höher liegt als die 1,6 Prozent, die tatsächlich nachträglich freigesprochen wurden, führen die Studienautoren zum Teil darauf zurück, dass bei manchen die Unschuld nie nachgewiesen wurde. Hinzu kamen jene Fälle, bei denen aufgrund von Zweifeln die Todesstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt wurde, ohne die Schuld grundsätzlich infrage zu stellen.

Zweifel an Effekt von DNA-Analysen
Große Zweifel hegen die Forscher daran, dass neue Untersuchungsmethoden inklusive DNA-Analysen mehr Justizirrtümer ans Licht bringen werden. „Nur“ in 13 Prozent der Begnadigungsfälle seit 1973 habe eine nachträgliche DNA-Untersuchung eine Rolle gespielt, schreiben sie – wenngleich jeder Fall natürlich wichtig ist.
Keine konkreten Angaben können die Forscher auch zur Zahl unschuldig Hingerichteter machen. Vielmehr werfe ihre Studie ein Licht auf jene Fälle, bei denen das Todesurteil in eine Haftstrafe umgewandelt wurde, ohne jedoch grundsätzlich die Schuld infrage zu stellen. Denn ab dem Zeitpunkt der Umwandlung von Todes- in Haftstrafe verlieren sowohl das Justizsystem als auch private NGOs das Interesse an diesen Fällen. Oder wie die Wissenschaftler es formulieren: „Sie werden zuerst zum Tode verurteilt, dann zu einer Haftstrafe – und dann vergessen.“

Quelle: Elke Ziegler, science.ORF.at
http://science.orf.at/stories/1737695/
ORF 02.05.14